Die Frankfurter Allgemeine über das Stadthaushotel Hamburg Altona.
„Wer integriert hier wen? Das Stadthaushotel in Hamburg bringt Menschen mit und ohne Behinderung zusammen.“
Die Servietten waren immer gelb gewesen. Immer schon. Als sie eines Tages aber plötzlich rot waren, weil jemand beschlossen hatte, dass das besser zu den neugestrichenen Wanden passe, streikten die Mitarbeiter. Es sei die falsche Farbe, sagten sie und weigerten sich, die Servietten zu falten und auf den Frühstückstischen zu verteilen wie sonst immer. Es dauerte eine Woche, bis rot zu einer genauso richtigen Farbe geworden war wie gelb.
Im Stadthaushotel in Hamburg-AItona ist manches ein wenig anders als in anderen Gasthäusern, neun der zwölf Mitarbeiter haben geistige und körperliche Behinderungen. „Anders aber gut“ steht im Prospekt. Man könnte sagen, das Stadthaushotel ist ein ganz besonderes Hotel.
Man könnte aber genauso behaupten: Das Stadthaushotel ist ein ganz normales Hotel. „Eigentlich sind wir das normalste Hotel überhaupt“, sagt Axel Graßmann, Geschäftsführer des Betreibers Jugend hilft Jugend e. V.“ und Leiter des Bereichs Arbeit. „Wir bringen Menschen mit und ohne Handicap zusammen. Und wir nehmen jeden auf, auch, wenn er im Liegerollstuhl kommt.“
Dann rechnet er vor: Etwa zehn Prozent der Bevölkerung seien schwerbehindert, fünf Prozent seit der Geburt, und wenn man davon ausgeht, dass jeder nur einen Betreuer hat, gehört das Thema für jeden fünften Deutschen zur Lebenswirklichkeit.
Theoretisch. Praktisch ist es so, dass viele Hoteliers keine Menschen mit Handicap einstellen oder aufnehmen, weil es immer wieder Gäste gibt, die sich von ihnen gestört fühlen, vor Gericht ziehen und den Reisepreis erstattet bekommen.
An diesem Tag kümmert sich Kerstin Buhr um das Frühstück, sie schenkt Kaffee nach, füllt die Platten auf und begrüßt jeden, der hereinkommt. „Da kommt unser Oberchef“, ruft sie, als Graßmann eintritt, zur Begrüßung gibt die kleine Frau dem großen Mann mit den roten Turnschuhen einen Klaps auf die Schulter.
Graßmann ist Sozialpädagoge und daher ein Mann, der nicht „schwierig“ sagt, sondern von „besonderen Herausforderungen“ spricht, er weiß, dass man „ein Mensch mit Behinderung“ oder „mit Handicap“ sagen soll und nicht „der ist behindert“, und auch lieber „Trisomie 21“ statt „Down-Syndrom“. Begrifflichkeiten sind letztendlich aber nicht so wichtig. Viel wichtiger sei, was getan werde: Das Stadthaushotel war das erste integrative Hotel Europas. Die Auslastung liegt zehn Prozent über dem Durchschnitt: Wenn man das Gästebuch durchblättert, liest man Einträge wie „Eine bereichernde Beherbergung“ oder „Vielen Dank für die Erfahrung“. Inzwischen sind über dreißig Hotels in Deutschland dem Beispiel gefolgt, ein Teil hat sich zu dem Verbund „Embrace-Hotels“ zusammengeschlossen, Graßmann ist der Präsident.
In der Fachdiskussion spricht man nicht von Integration, sondern von Inklusion. „Wer integriert wird, war draußen“, sagt Graßmann, „Inklusion steht für eine Begegnung auf der gleichen Ebene.“ Ohnehin bekommt man hier schnell das Gefühl, dass eher die Leute ohne Behinderung Integration nötig haben. Nicht wenige sind unsicher, wie sie Menschen mit geistiger Behinderung begegnen sollen. „Wer hierherkommt, verliert seine Unsicherheit schnell“, sagt Graßmann, „denn man kommt als Gast und hat das Recht auf Dienstleistung. Das macht es einfach.“
Zwischendurch springt er auf, legt ein Besteck um oder bittet Kerstin Buhr, noch ein Gedeck zu holen. Ihre Eltern gehören zu jenen, die 1993 das Stadthaushotel eröffneten, um für ihre Kinder Arbeitsplätze zu schaffen, seit acht Jahren betreibt es der Verein „Jugend hilft Jugend“. Im Altbau über dem Hotel leben vier der Mitarbeiter in einer Wohngemeinschaft, auch Buhr hat dort ein Zimmer.
Einer ihrer Mitbewohner ist Clemens Paschen, er hat an diesem Tag „Schmutz- und Putzdienst“, wie er es formuliert. Das Wchtigste dabei ist seine Liste. Sie ist so etwas wie das Gedächtnis, das ihm manchmal fehlt. „Ich bin sehr vergesslich“, sagt der 39-Jährige, „das ist ein Teil meiner Behinderung.“ Auf der Liste hakt er ab, was er erledigt hat, und liest nach, was als Nächstes ansteht. „Wenn dreckige Handtücher da sind, dann raus und neue rein“ steht da zum Beispiel, oder „Müll raus, neue Müllbeutel“, oder „WC-Papier da?“.
In seinem Zimmer stehen drei Designersessel und Sofas, erzählt er, Möbel sammeln sei eines seiner Hobbys. Außerdem sammelt er DVDs, Zubehör für seine Modellbahn – und unbekannte Orte. Unbekannte Orte? „Das ist mein wichtigstes Hobby“, sagt Paschen, „ich recherchiere gerne, und wenn ich einen unbekannten Ort finde, dann guck‘ ich den nach und drucke etwas über ihn aus und hefte das in einem Ordner ab.“
Viereinhalb Stunden dauert eine Schicht, vom Tarifgehalt kann er leben und Steuern zahlen. Das Wichtigste, sagt er, sei ein zufriedener Gast. Das macht er einem leicht, selbst wenn man ihm im Weg herumsteht, bleibt er herzlich und fröhlich. Und keiner kann so druckreif über seine Arbeit sprechen wie er: „Das Waschbecken“, sagt er, „wird zunächst von den Sachen der Gäste befreit, die lege ich in ihrer Reihenfolge zur Orientierung auf die Seite, damit ich sie später wieder genauso zurücklegen kann. Aber vorher müssen alle Flecken beseitigt werden, damit der Gast bei seiner Rückkehr einen sauberen und positiven Eindruck erhält.“
Der Service muss im Stadthaushotel mindestens genauso gut sein wie in anderen Hotels, „in dreckigen Betten liegt auch keiner gerne, der solidarisch ist“, sagt Kai Wiese, der Vorstandsvorsitzende des Vereins Jugend hilft Jugend“. Wiese legt erst eine rote Visitenkarte auf den Tisch und danach einen gewichtigen Satz nach dem anderen: „Es ist nicht einzusehen, dass jemand fünfzig Prozent Leistung bringt und zu hundert Prozent ausgegrenzt wird.“ Oder: „Wir betreiben eine Spatz-in-der-Hand-Politik, aber lieber zehn Projekte realisiert als über hundert geredet.“
Kai Wiese hat eine Vision. Er wünscht sich, dass Behinderungen für alle eine Spur selbstverständlicher werden. Das nächste große Projekt ist ein Stadthaushotel in der Hafencity, das Fundament ist schon da, 2010 soll es eröffnen, mit sechzig Arbeitsplätzen, vierzig davon für Menschen mit Handicap. „Ein wichtiger Baustein für Hamburgs neues Zentrum“ steht in der Broschüre, Kai Wiese nennt das Vorhaben „einen sozialen Leuchtturm“. Und natürlich hat er dazu auch noch einen nachdrücklichen Satz in der Tasche: „Der soll nicht nur strahlen, damit keiner untergeht, sondern er soll auch andere Schiffe anlocken.“
Ein Artikel von Anne-Dore Krohn, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, vom 21. Dezember 2008