Im Hamburger Stadthaushotel leben und arbeiten neun behinderte Jugendliche. Das Projekt ist bundesweit einzigartig.
Allgemeines Sonntagsblatt vom 11. Februar 1994. Text: Torsten Schuber.
Presse-, Medienberichte: Sonntagsblatt
Im Hamburger Stadtteil Altona hat ein Hotel besonderer Art eröffnet. Ein offenbar besonders freundliches Hotel: „Dies war mit Abstand das netteste Personal, welches wir je erlebt haben“, schrieb ein Paar ins Gästebuch. hatte seine Flitterwochen in dieser Herberge verbracht. Und ein Paul Reschke aus Hameln glaubt zwar nicht, dass der Umgang mit den „besonderen“ Angestellten für alle Gäste immer einfach ist, „aber ich hatte keine Probleme“, bemerkt der Rentner, „ich komme wieder.“
Im Altonaer Stadthaus-Hotel arbeiten neun geistig behinderte Jugendliche im Alter zwischen 21 und 23 Jahren. Die Idee hatte ein Elternverein vor acht Jahren. Die Jugendlichen kennen sich schon lange, besuchten gemeinsam eine anthrosophische Schule. „Wir als Eltern wollten, dass diese Gemeinschaft auch im späteren Leben zusammenbleibt.“ Vor vier Monaten gründeten sie das Hotel. Die Leitung übernahm der Hotelmanager Arezki Krim. Er war zuvor Abteilungsleiter in einem renommierten Hamburger Hotel.
Ein Blick ins Gästebuch zeigt: Die Besucher akzeptieren das Haus. In den ersten vier Monaten verbuchte Arezki Krim bereits 587 Übernachtungen – bei stadtüblichen Zimmerpreisen von 130 bis zu 220 Mark mit Frühstück. „Viele Gäste kommen auf Empfehlung von Bekannten und kennen uns dadurch bereits“, sagt Arezki Krim. „Andere sind auf der Suche nach einem Hotel und staunen dann über uns, obwohl wir sie vorher über unser Konzept informieren.“
Die Kommunikation zwischen Gästen und Angestellten klappt erstaunlich gut. Sie sind sehr höflich zu mir“, sagt Claudia über ihr Publikum. Die junge Frau ist gelernte Hauswirtschafterin und geht trotz ihrer Behinderung sehr selbstbewusst auf andere Menschen zu. Sie lebt in einer eigenen Wohnung. Auch die anderen Jugendlichen sind bei ihren Eltern ausgezogen. Sie wohnen in einer Etage über dem Hotel. Sechs Sozialpädagogen betreuen sie rund um die Uhr.
Das Hotel mit seinen elf Betten in sieben Zimmern ist ein bundesweit einzigartiges Projekt. Die Idee ist genauso einfach wie praktisch: Die Jugendlichen sollen lernen, sich in einer Gruppe selbst zu versorgen – also Essen zubereiten, Zimmer sauberhalten, telefonieren und waschen. Doch: „Was die Gruppe selbst braucht, können wir auch für Fremde nutzen“, sagt Henning Born, Vorsitzender des Vereins und Vater einer mehrfachbehinderten Tochter. Die Hamburger Sozialbehörde und viele private Sponsoren unterstützen das Projekt. „Dafür sind wir dankbar, dankbar, dankbar“, sagt Henning Born.
Die neun Jugendlichen wurden zwei Jahre lang auf einer Berufschule zu Hotelfachleuten ausgebildet – als erste Behindertenklasse an einer solchen Schule. Jetzt arbeiten sie jeden Tag vier Stunden und werden nach Tarif bezahlt. „Sie verdienen ungefähr 800 Mark im Monat“, erzählt Henning Born. 10 700 Mark zahlt der Verein monatlich für die Miete von Hotel und Wohnräumen. Hinzu kommen noch die Gehaltskosten für Betreuer und Hotelmanagement von 50 000 Mark. „Das ergibt einen Gesamtetat von 800 000 Mark im Jahr.“ Doch Henning Born ist zuversichtlich: „Mit einer Auslastung von 60 Prozent können wir die Hotelkosten abdecken.“
Punkt neun Uhr erscheinen Jens und Mirco. Beide tragen über ihrem weißen Hemd eine Weste und dunkle Hosen. Mircos Weste ist mit bunten Rauten verziert. Die beiden nehmen sich einen großen Wagen mit Bettzeug, Handtüchern und Putzsachen und steuern ein Zimmer an. „Also, Jens, was ist zu tun?“ fragt Mirco. Jens beginnt das Bett zu machen. Dann werfen beide die Tagesdecke darüber, Mirco streicht sie mit äußerster Sorgfalt glatt. Anschließend gehen sie ins Bad.
„Am Anfang wusste ich nicht, wie soll ich mich gegenüber den Jugendlichen verhalten“, berichtet Arezki Krim. „Mit der Zeit habe ich gelernt: Ich erwarte nichts. „Sie würden nie die Arbeit verweigern, aber manchmal stehen sie nur rum und warten. Wir üben immer. Auch wenn keine Gäste da sind, machen wir sauber.“ Die Jugendlichen ergänzen sich untereinander, hat Krim beobachtet: „Der eine sieht etwas, kann die Arbeit aber motorisch nicht so gut machen und sagt dann: Hier, guck mal.“ Im Putzschrank hängt ein großer Zettel, darauf steht: „Wir achten auf die Farben der Lappen.“ Gelb ist für die Reinigung der Toiletten, Rot für die Küche, und die blauen Lappen sind für das Bad gedacht.
Jens und Mirco sind inzwischen schon ein Zimmer weiter gegangen und ziehen fort das Bett ab: „Jetzt machen wir Tauziehen.“ Claudia ist mit dem Frühstück fertig und kommt dazu. „Ich muss den Männern helfen, sonst wird das nichts mehr heute“, sagt sie. Ab jetzt geht schneller – auch wenn Mirco manchmal tanzt und Jens die Arbeit überlässt. Aber dann greift er ein, weil sein Kollege einen Fehler macht. Mirco zeigt Jens, wie man ein Handtuch faltet: „So macht man das lieber junger Freund.“ Und: „Jetzt gehst du noch mal zurück und holst das andere.“ Als Jens endlich richtig gemacht hat, sagt Mirco beinahe liebevoll zu seinem Freund: „Mit dir hab ich wirklich nicht leicht, Jens.“
Alle Zimmer sind behindertengerecht ausgebaut. gibt keine Badewannen aber breite Duschen für Rollstuhlfahrer. Die Türen lassen sich auf Knopfdruck öffnen, die Garderoben sind im Sitzen erreichbar. Behinderte Kinder von Gästen können tagsüber mit in der Wohngruppe betreut werden. „Um so erstaunlicher, das wir bis jetzt kaum behinderte Besucher hatten“, meint Arezki Krim.
Elternsprecher Henning Born gibt zu „Unsere Jugendlichen sind privilegiert. Doch nicht etwa, weil sie aus besonderreichen oder gebildeten Elternhäusern kommen, sondern weil sich die Eltern vernünftiger Weise um ihre Kinder kümmern.“ In vernünftiger Weise heißt für ihre auch behinderten Jugendlichen eine Chance zur eigenständigen Entwicklungen zu geben. „Das fällt vielen Eltern schwer weil sie denken, ihre Kinder brauchen eine besondere Obhut.“ So haben an diese Trennung der Jugendlichen von zu Hause die Eltern fast mehr gelitten.
Im Hamburger Stadtteil Altona hat sich das Stadthaus-Hotel gut eingeführt. Daher haben wir keine Diskriminierung von Seiten der Nachbarn gespürt“, sagt Born. Im Gegenteil: „Neulich in der Sparkasse kam der Filialleiter auf mich zu und sagte, alle seien ganz stolz und glücklich dass wir hier sind.“