In Hamburg führen geistig Behinderte ein Hotel / Viele Geschäftsleute unter den Gästen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. März 1994.
Presse-, Medienbericht: FAZ
HAMBURG, 21. März (dpa). „Viele haben gesagt: Das ist Quatsch. Es gibt schon gesunden Menschen genug Probleme“, erzählt Arezki Krim, Direktor und „Mädchen für alles“ in Deutschlands wohl erstem von Behinderten geführten Hotel. Vor einem halben Jahr öffnete in einem roten Backsteinneubau im Hamburger Stadtteil Altona seine Pforten. Sieben Männer und Frauen im Alter von zwanzig bis 24 Jahren sorgen unter Krims Anleitung für den reibungslosen Hotelbetrieb. Die jungen Angestellten sind alle geistig behindert.
Die Idee für diesungewöhnliche Projekt hatten die Eltern der Männer und Frauen. Die im Verein „Werkstatdthaus“ zusammengeschlossenen Eltern überlegten, wie ihre Kinder nach der Schule im vertrauten Kreis eine sinnvolle Aufgabe erfüllen könnten. In dem Neubau durften sie das Hotel nach ihren Vorstellungen gestalten. Ein einmaliger Zuschuss von 300 000 Mark aus öffentlichen Mitteln für die geschaffenen Behindertenarbeitsplätze und die Bezahlung der individuellen Betreuung und Anleitung der Behinderten durch die Sozialbehörde ermöglichen das Projekt.
Die sieben Gästezimmer mit insgesamt elf Betten sind behindertengerecht ausgestattet. Breite Türen, niedrig angelegte Türklinken und Fenstergriffe sowie Halterungen an Duschen und Toiletten ermöglichen Rollstuhlfahrern, alltägliche Handgriffe zu verrichten. „Trotzdem sind 90 Prozent unserer Gäste nicht behindert“, sagt Arezki Krim im Rückblick auf das vergangene halbe Jahr. Vor allem Geschäftsleute zählen zu seinen Gästen.
„Arbeiten als Hobby“
Krim ist vom Fach. Der 47 Jahre alte gebürtige Algerier lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland und hat in vielen großen Hotels gearbeitet: „Ich verdiene jetzt zwar weniger Geld als vorher, habe aber eine sinnvolle Aufgabe.“ Bevor er sich gemeinsam mit Kerstin, Claudia, Clemens, Mirko, Jens, Gunther und Dirk um die Hotelgäste kümmerte, hatte er noch nie mit Behinderten gearbeitet. „Es war auch eine Herausforderung für mich“, beschreibt er seine Motivation für das Experiment. Inzwischen hat Krim vielvon seinen Mitarbeitern gelernt: zum Beispiel, dass geduldiges Zeigen auf fruchtbaren Boden stößt als harte Kritik.
Ob am Frühstücksbuffet, in der Küche oder bei der Reinigung der Zimmer: Mit Beigeisterung erledigen die jungen Hotelmitarbeiter ihre Aufgaben. „Arbeiten“, antwortet Kerstin auf die Frage nach ihrer Lieblingsbeschäftigung. Die 22 Jahre alte Frau wohnt mit ihren Freunden und Kollegen in der betreuten Wohngruppe im ersten und zweiten Stockwerk des Hotelgebäudes. Dort befindet sich auch die Hotel-Wäscherei. Mirko bedient die Mangelmaschine, dann muss er ins Erdgeschoss zum Dienst. Vier Stunden arbeitet er. In seiner Freizeit spielt er Theater, Flöte und Klavier. Sein Traum: einmal als Schauspieler bei den Segeberger Festspielen dabei zu sein. „Furchtbar schwierig“ fand der Zwanzigjährige zunächst, nicht mehr bei seinen Eltern zu leben. Das Zusammenleben mit seinen Freunden erleichterte ihm diesen Schritt: „Wir helfen und trösten uns gegenseitig.“
„Man spürt, wie gut ihnen tut, eine echte Aufgabe zu haben“, sagt Ursula Felsmann, eine der sechs Betreuerinnen der Wohngruppe. „Die jungen Leute übernehmen ohne Zögern alle Arbeiten“, sagt Arezki Krim. „Schließlich wollen sie keine Almosen, sondern sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.“